Der stille TTIP & CETA Angriff auf öffentliche Dienstleistungen
Die geplanten Handelsabkommen mit Kanada und den USA könnten den Zugang zu Basis-Dienstleistungen wie Wasser und Gesundheit gefährden. Ganz im Sinne mächtiger Unternehmenslobbies verfolgt die EU-Kommission in den Verhandlungen eine aggressive Marktöffnungsagenda im öffentlichen Sektor.
Die Studie gibt es als PDF-Datei auf deutsch, englisch und französisch.
Die Zusammenfassung gibt es in vielen weiteren Sprachen: English, French, German, Spanish, Italian, Dutch, Danish, Polish, Greek, Czech, Latvian, Lithuanian, Estonian, Finish, Turkish, Portuguese, Russian, Romanian, Bulgarian, Kroatian, Swedish and Hungarian.
Die öffentlichen Dienstleistungen in der Europäischen Union (EU) werden durch internationale Handelsabkommen bedroht, die die demokratische Regulierungshoheit der Staaten sowie das Recht der BürgerInnen auf Leistungen der Daseinsvorsorge wie Wasser, Gesundheit und Energie im Interesse privater Gewinne gefährden. Das von der EU mit Kanada fertig verhandelte CETA-Abkommen, dessen Ratifizierung für 2016 in Aussicht gestellt worden ist, und das mit den Vereinigten Staaten verhandelte TTIP-Abkommen sind der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklungen. Im schlimmsten Fall könnte dadurch eine Kommerzialisierung der öffentlichen Dienstleistungen festgeschrieben werden, die irreparable Schäden in der Daseinsvorsorge und für unser Gemeinwohl anrichten würde.
Die vorliegende Studie bringt ein wenig Licht in die geheimen Absprachen zwischen großen Wirtschaftsverbänden und den EU-VerhandlerInnen für internationale Handels- und Investitionsabkommen. Sie zeigt die aggressiven Strategien der Dienstleistungskonzerne im Hinblick auf TTIP und CETA und die Versuche, eine weitgehende Marktöffnung in Bereichen wie Gesundheit, Kultur, Postdienste und Wasserwirtschaft durchzusetzen. Diese Abkommen ermöglichen den Dienstleistungskonzernen, ihre Geschäftsfelder in die Daseinsvorsorge auszuweiten und ihre Marktmacht auszubauen. Die Studie zeigt außerdem, wie die Europäische Kommission der Dienstleistungsindustrie bereitwillig den roten Teppich ausrollt: Sowohl der im September 2014 veröffentlichte konsolidierte CETA-Text als auch Entwürfe der TTIP-Kapitel und interne Verhandlungsunterlagen zeigen, wie stark die Wunschlisten der Wirtschaftslobbyisten bereits Berücksichtigung gefunden haben.
Zentrale Ergebnisse der Studie:
- TTIP und CETA werden von denselben Dienstleistungs-Lobbygruppen beeinflusst, die sich im Zuge früherer Verhandlungen in den vergangenen Jahrzehnten formiert haben. Dazu gehören BusinessEurope, die mächtigste Wirtschaftslobby in der EU, und das European Services Forum, eine einflussreiche Lobbyorganisation, die sowohl europäische Unternehmensverbände der Dienstleistungsbranche als auch große Konzerne wie British Telecommunications und die Deutsche Bank vereint.
- Die Beziehungen zwischen der Wirtschaft und der Europäischen Kommission sind keine Einbahnstraße, vielmehr fördert die Kommission aktiv das Business-Lobbying im Umfeld der Handelsverhandlungen. Dies wird auch als „umgekehrtes Lobbying“ bezeichnet, das heißt, öffentliche Administrationen fordern private Akteure gezielt dazu auf, sie zu lobbyieren. In diesem Fall bemüht sich die Europäische Kommission aktiv um eine enge Zusammenarbeit mit den Unternehmensverbänden, da sie dadurch wiederum ihre eigene Verhandlungsposition stärken kann. Pierre Defraigne, früherer stellvertretender Generaldirektor der Handelsabteilung der EU-Kommission, spricht von „systematischen Absprachen zwischen der Kommission und Wirtschaftskreisen“.
- Die Wirtschaftslobby hat bereits einen großen Erfolg errungen, denn CETA ist das erste EU-Abkommen, das hinsichtlich der Liberalisierungsverpflichtungen für Dienstleistungen dem Modell der „Negativliste“ folgt. Das bedeutet, dass grundsätzlich alle Dienstleistungen liberalisiert werden müssen, wenn nicht eine ausdrückliche Ausnahme gemacht wird. Dies ist eine grundlegende Abkehr vom Positivlistenmodell, das bisher der Standard in den Handelsabkommen der EU war und nur die Liberalisierungen von Dienstleistungen zulässt, denen die Regierungen ausdrücklich zugestimmt haben (während andere Sektoren unberührt bleiben). Der Negativlistenansatz erweitert den Geltungsumfang eines Handelsabkommens auf drastische Weise. Damit gehen Regierungen auch Verpflichtungen für Bereiche ein, die noch gänzlich unbekannt sind (z.B. Dienstleistungen, die sich erst in der Zukunft aufgrund neuer Technologien entwickeln werden). Diese umfassende Liberalisierungstechnik könnte auch bei TTIP zum Zug kommen. Denn hier drängt die EU-Kommission die Mitgliedstaaten darauf, ebenso den riskanten Verhandlungsansatz der Negativliste zu akzeptieren und so den Forderungen der Wirtschaftslobby nachzukommen.
- Big Business hat erfolgreich Lobbyarbeit gegen die Ausnahme öffentlicher Dienstleistungen vom Geltungsbereich von CETA und TTIP geleistet, denn beide Abkommen erstrecken sich auf praktisch alle Dienstleistungen. Eine sehr begrenzte allgemeine Ausnahme gibt es nur für Dienstleistungen, „die in Ausübung hoheitlicher Gewalt“ erbracht werden. Damit diese Ausnahmeregelung greift, muss eine Dienstleistung aber „weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungserbringern erbracht werden.“ Heute existieren aber in praktisch allen traditionell öffentlichen Sektoren private Unternehmen neben öffentlichen Versorgern, und zwischen beiden gibt es oft einen harten Wettbewerb. Im Endeffekt ist diese Ausnahmeregelung auf einige wenige staatliche Kernfunktionen wie die Rechtsdurchsetzung, das Gerichtswesen oder die Dienste einer Zentralbank begrenzt. Ähnliche Probleme bestehen bei der lückenhaften Ausnahme für sogenannte „öffentliche Versorgungsleistungen“ („public utilities“): Diese erlaubt lediglich, dass „öffentliche Versorgungsleistungen“ öffentlichen Monopolen und ausschließlichen Rechten unterliegen dürfen. Es gibt jedoch so viele Schlupflöcher für kommerzielle Interessen, dass auch in diesem Fall kein adäquater Schutz öffentlicher Dienstleistungen gegeben ist.
- Die vermutlich massivste Bedrohung öffentlicher Dienstleistungen ergibt sich aus den weitreichenden Investitionsschutzklauseln, die in CETA verankert wurden und auch für TTIP vorgesehen sind. Das als Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren (ISDS) bezeichnete System würde Tausenden von US-amerikanischen und kanadischen Unternehmen die Möglichkeit eröffnen, die EU und ihre Mitgliedstaaten wegen regulatorischer Änderungen im Dienstleistungssektor, die sich negativ auf die Erträge der Unternehmen auswirken, zu verklagen – mit Entschädigungszahlungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro als möglicher Folge. Diese Möglichkeit können auch multinationale Konzerne mit Sitz in der EU nutzen, die ihre Tochtergesellschaften auf der anderen Seite des Atlantiks entsprechend strukturieren. Politische Entscheidungen zur Regulierung öffentlicher Dienstleistungen, z.B. Höchstpreise für die Wasserversorgung oder die Rücknahme von Privatisierungen, waren bereits Gegenstand von Investoren-Klagen.
- Die unterschiedlichen Vorbehalte und Ausnahmeregelungen in CETA und TTIP bieten keinen effektiven Schutz des öffentlichen Sektors und der demokratischen Entscheidungen darüber, wie dieser Sektor zu organisieren ist. Das gilt besonders deshalb, weil die Ausnahmen im Allgemeinen nicht für die gefährlichsten Investitionsschutzstandards und ISDS gelten und politische Regulierungen in sensiblen öffentlichen Sektoren wie Bildung, Wasserversorgung, Gesundheit, sozialer Absicherung und Altenpflege daher leicht zum Ziel aller möglichen Investoren-Klagen werden können.
- Die Europaäische Kommission erfüllt die Forderungen der Wirtschaftslobby, derzeitige und zukünftige Liberalisierungen sowie Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen unumkehrbar zu machen, z.B. durch die gefährlichen Stillhalte- und Sperrklinken-Klauseln – selbst dann, wenn sich frühere Entscheidungen als Fehler erweisen sollten. Dies könnte z.B. den zunehmenden Trend zur Rekommunalisierung in der Wasserwirtschaft (Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und Ungarn), bei den Energienetzen (Deutschland und Finnland) und in der Verkehrswirtschaft (Groß- britannien und Frankreich) gefährden. Eine Rückabwicklung einiger der gescheiterten Privatisierungen im britischen Gesundheitssystem NHS zum Vorteil gemeinnütziger Gesundheitsdienstleister könnte als Verstoß gegen CETA/TTIP angesehen werden, ebenso wie Nationalisierungen und erneute Regulierungen im Finanzsektor, wie wir sie während der Wirtschaftskrise erlebt haben.
- Wird den Forderungen der Konzerne nach einem ungehinderten Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen nachgegeben, könnte dies die Fähigkeit von Verwaltungen beeinträchtigen, örtliche und gemeinnützige Anbieter zu unterstützen, und dazu beitragen, dass Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor an die Privatwirtschaft ausgelagert werden. Die Beschäftigten dort sind oft gezwungen, die gleiche Arbeit für weniger Lohn und unter schlechteren Arbeitsbedingungen zu leisten. Im CETA haben sich Staaten bereits in mehreren Sektoren zu transatlantischen Zwangsausschreibungen verpflichtet, wenn sie Waren und Dienstleistungen einkaufen. Dies ist ein effektives Mittel für weitere Privatisierungen, da öffentliche Dienstleistungen nach und nach an gewinnorientierte Dienstleister übertragen werden. US-Lobbygruppen wie die Alliance for Healthcare Competitiveness (AHC) und die US-Regierung wollen die Schwellenwerte für transatlantische Ausschreibungen im TTIP-Abkommen drastisch senken.
- Sowohl CETA als auch TTIP bergen die Gefahr einer Liberalisierung der Gesundheits- und Sozialdienste. Neue Regulierungsmaßnahmen in diesem Sektor wären damit nur noch schwer zu verwirklichen. Das TTIP-Dienstleistungsangebot des Vereinigten Königreichs etwa beinhaltet ausdrücklich Krankenhausdienstleistungen. Im CETA-Text und den jüngsten TTIP-Entwürfen liberalisieren nicht weniger als 11 EU-Mitgliedstaaten die Langzeitpflege für ältere Menschen, z.B. in stationären Einrichtungen (Belgien, Zypern, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien und Vereinigtes Königreich). Dies könnte Maßnahmen zum Schutz des Langzeitpflegesektors gegen Ausschlachtungsstrategien von Finanzinvestoren erschweren; beispielhaft sei hier die Pleite des Altenheimbetreibers Southern Cross in Großbritannien genannt.
- Der aktuelle Textentwurf der EU zum TTIP-Dienstleistungskapitel schränkt die Universaldienstpflicht im Bereich Post- und Zustelldienste stark ein. Dies entspricht den Wünschen großer Zustelldienste wie UPS oder FedEx. Universaldienstverpflichtungen wie die tägliche Postzustellung auch in abgelegene Gebiete ohne zusätzliche Kosten haben den Zweck, den universellen Zugang zu grundlegenden Diensten zu erschwinglichen Preisen zu garantieren.
- TTIP und CETA drohen, die Freiheit öffentlicher Versorger einzuschränken, Energie entsprechend den Interessen der Allgemeinheit zu erzeugen und zu verteilen, zum Beispiel durch die Unterstützung erneuerbarer Energien im Kampf gegen den Klimawandel. Nur sehr wenige EU-Mitgliedstaaten haben sich in den Handelsabkommen ausdrücklich ihr Recht vorbehalten, bestimmte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Stromerzeugung (nur Belgien, Portugal und die Slowakei) und mit lokalen Energieverteilungsnetzen (darunter Belgien, Bulgarien, Ungarn und die Slowakei) zu ergreifen.
- Die USA haben Interesse an der Öffnung des Bildungsmarktes durch TTIP – angefangen bei der Managementausbildung über Sprachkurse bis hin zu Hochschul-Eingangstests. US-Bildungsunternehmen im europäischen Markt wie Laureate Education, die Apollo Group und die Kaplan Group könnten genauso davon profitieren wie die deutsche Bertelsmann-Gruppe, die vor kurzem Anteile am Online-Bildungsanbieter Udacity in den USA erworben hat. Die Europäische Kommission hat die EU-Mitgliedstaaten bereits hinsichtlich ihrer „potenziellen Flexibilitäten“ im Hinblick auf die US-Anfrage nach Bildungsdienstleistungen befragt.
- Die US-Filmindustrie möchte per TTIP die Sendequoten für europäische Produktionen und andere Fördermechanismen für die örtliche Filmindustrie abschaffen (z.B. in Polen, Frankreich, Spanien und Italien). Lobbygruppen wie die Motion Picture Association of America (MPPA) und die US-Regierung bekämpften deswegen die Ausnahmeregelung für audiovisuelle Dienstleistungen im TTIP-Verhandlungsmandat der EU, die u.a. die französische Regierung durchsetzen konnte. Nun versuchen sie, die Ausnahmen so weit wie möglich einzuschränken, indem z.B. die Rundfunkübertragung vom Konzept der audiovisuellen Dienstleistungen ausgenommen wird – offenbar mit Unterstützung von EU-Wirtschaftsverbänden wie BusinessEurope und der Europäischen Kommission.
- Finanzinvestoren wie BlackRock mit Investitionen in der europäischen Daseinsvorsorge könnten die TTIP- und CETA-Klauseln über Finanzdienstleistungen und Investorenschutz nutzen, um gegen vermeintlich „belastende” Regulierungen vorzugehen, wie sie z.B. die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege darstellen könnten. Lobbygruppen wie TheCityUK, die die britische Finanzwirtschaft vertritt, setzen sich massiv für ein „umfassendes“ TTIP ein, das „alle Aspekte der transatlantischen Wirtschaft beinhalten sollte“.
- US-Dienstleistungsunternehmen wollen mit TTIP auch vermeintliche „Handelshemmnisse“ wie arbeitsrechtliche Bestimmungen angehen. So möchte beispielsweise das US-Unternehmen Home Instead, ein führender Anbieter häuslicher Pflegedienste für ältere Menschen mit Partnerbetrieben in mehreren EU-Mitgliedstaaten, über TTIP „unflexible Arbeitsregelungen“ aus dem Weg räumen, die das Unternehmen dazu verpflichten, ihren Teilzeitkräften Leistungen wie z.B. bezahlten Urlaub zu gewähren. Dadurch, so Home Instead, würden „die Kosten für die häusliche Pflege unnötig nach oben getrieben.“
Was Handelsabkommen wie TTIP und CETA aufs Spiel setzen, ist unser Recht auf eine hochqualitative Daseinsvorsorge und – viel mehr noch – unsere Fähigkeit, Dienstleistungen im Interesse der Gesellschaft und des Gemeinwohls zu gestalten. Ohne einen grundlegenden Kurswechsel führen diese Verhandlungen zu einem schwerwiegenden Verlust von politischen Handlungsspielräumen zur Sicherung von öffentlichen Interessen.
Eine Maßnahme, öffentliche Dienstleistungen vor den Angriffen kommerzieller Interessen zu schützen, wäre eine umfassende und unmissverständliche Ausnahme aller öffentlichen Dienstleistungen von allen EU-Handelsabkommen und -verhandlungen. Eine solche Ausnahmeregelung würde allerdings nichts an den anderen Bedrohungen ändern, die CETA und TTIP beinhalten, denn zahlreiche weitere Klauseln gefährden die Demokratie und das Wohl der BürgerInnen. Solange TTIP und CETA nicht die demokratische Regulierungshoheit von Staaten im öffentlichen Interesse schützen, sind diese Abkommen abzulehnen.